Wien: Anatomie des Eisenbetons

In Wien existiert eine Reihe von Gebäuden aus Eisenbeton, die vor 1914 entstanden sind. Diese erweisen sich als klug geplant, nachhaltig und robust. Eines davon ist die ehemalige Demuth-Fabrik in Wien-Neubau.

Das ehemalige Fabriksgebäude in der Kaiserstraße 67–69 – versteckt in einem Innenhof – wird aktuell von der Kreativszene mit großer Begeisterung genützt. „Das Gebäude war 1905–06 als Firmensitz für Carl und Edmund Demuth – Edel-Walzwerk errichtet worden. Über die Jahrzehnte wurde es kaum verändert. Die weiträumige Struktur in Skelettbauweise ist bestens erhalten und beweist, dass auch entsprechende Neunutzungen sehr gut möglich sind“, sagt Otto Kapfinger, Architekturwissenschafter und Publizist. „Es gibt da Dutzende in Materialqualität und Raumangebot beeindruckende Bauten, die immer noch in ausgezeichnetem Zustand sind. Vor allem private, aufstrebende Unternehmen schätzten damals die neuartige Technologie – und fanden in experimentierfreudigen Baufirmen wie Eduard Ast & Co. exzellente Partner“, erklärt Kapfinger.

Schlanke Strukturen

Für den Architekturwissenschafter ist gerade dieser Bau ein Meilenstein der Ära, der vor groben Aufstockungen oder Eingriffen bewahrt werden sollte. Die Argumente dafür hat er kürzlich in einem umfangreichen Gutachten dargelegt: „Besonders ist hier, dass sich die sehr schlanke, innere Skelettbauweise auch direkt und pur an den Fassaden präsentiert. Ast & Co realisierte da erstmals in Wien vier Etagen hohe, großflächig verglaste Außenwände als vor Ort gegossene Betonstruktur, die nach dem Ausschalen noch händisch fein nachbearbeitet wurde. Auch das starke Dachgesims und die zarteren, horizontalen Gesimsbänder der Etagen wurden hier – unverkleidet sichtbar – Zug um Zug mit den Stützen und Plattenbalkendecken gegossen“, sagt Kapfinger.

Umfangreiche Monografie und Ausstellung

Die ehemalige Demuth-Fabrik gilt heutzutage als das erste Gebäude Wiens mit einer vollständigen Beton-Fassade – ein Fakt, der auch vielen Fachleuten völlig unbekannt ist. Die großen Fensterflächen mit Eisen-Glas-Rasterung haben immer noch die ursprünglichen Profile beibehalten. Die loftartigen Innenräume zeichnen sich durch äußerst schlanke Strukturen und eine beeindruckende Flexibilität aus und sind durch große Fenster auch ausreichend hell. Das macht sie gerade als Büroflächen besonders beliebt.

Dieses und weitere größtenteils vergessene Eisenbetonbauten der Jahrhundertwende in Wien wird Otto Kapfinger in einer umfangreichen Monografie unter dem Namen „Anatomie einer Metropole – Pionierjahre des Bauens mit Eisenbeton Wien 1890–1914“ bearbeiten, das 2024 publiziert und u. a. dabei auch von Beton Dialog Österreich unterstützt wird. Dem Buch folgt die gleichnamige Ausstellung im Wien Museum.

wien eisenbeton 01
Die loftartigen Innenräume sind als Büroflächen besonders beliebt (Foto: Bruno Klomfar)
wien eisenbeton 02
ehemalige Demuth-Fabrik (Foto: Bruno Klomfar)
wien eisenbeton 03
ehemalige Demuth-Fabrik (Foto: Bruno Klomfar)